
Erster Kindergipfel der Initiative “Kinder brauchen Kinder”
Seit Beginn der Entspannung der Coronakrise und den damit einhergehenden weitgehenden Lockerungen zeigt sich, dass die Kinder-, Familien- und Bildungspolitik keine hohe Priorität in Deutschland hat. Schul- und Kitaöffnungen gehen nur sehr schleppend voran. In den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens ist wieder eine eingeschränkte Normalität eingekehrt, während das Recht der Kinder auf Bildung und Teilhabe keine Geltung mehr zu haben scheint. Bis dato haben die Regierungsparteien kein auf Kinder und Bildung fokussiertes Krisentreffen mit allen Beteiligten einberufen. Daher hat die Initiative “Kinder brauchen KInder” am 9. Juni einen digitalen Kindergipfel mit hochkarätiger Besetzung veranstaltet. Ziel des Veranstaltung war der respektvolle und offene Austausch von Betroffenen und Expert:innen mit der Vision, eine positive Umgebung für Kinder und alle Beteiligten während der Corona-Krise zu schaffen.
Zwei Stunden lang diskutierten die Expert:innen Prof. Dr. Matthias Keller, M.A. Birgit Riedel, Prof. Dr. Annette Schneider und M.A. Nadine Kempf die aktuelle Situation, Hintergründe und Lösungen und stellten sich den Fragen der Initiative und der Gäste. Weiterhin vertreten waren die Gewerkschaft GEW-RLP, die Initiative “Familien in der Krise”, Kitaverbände und -träger sowie Landeselternbeiräte.
Im folgenden berichten wir über die Eckpunkte, die im Rahmen des Kindergipfels diskutiert wurden:
- Kitas und Grundschulen sind aus infektiologischer und kinderärztlicher Sicht gleich zu behandeln.
- Unerlässlich für eine reibungslose Öffnung von Kitas und Schulen sind klare Vorgaben der Kultusministerien.
- Klare Botschaft an die Politik: Kultusministerien müssen eine altersspezifische Flexibilität für Schulen ermöglichen!
- Wir brauchen eine achtsame Gelassenheit.
- Die Interessen und verbrieften Rechte der Kinder müssen in den Fokus der gemeinsamen Anstrengungen aller Beteiligten rücken.
Ergebnisse des Kindergipfels
Corona in Kitas und Schulen – Hygiene und Ansteckung
Einer der wichtigsten Diskussionspunkte des Kindergipfels war die Frage nach der Ansteckungsgefahr, die möglicherweise mit der Öffnung von Kitas und (Grund-)schulen einhergehen könnte, sowie nach sinnvollen Hygienemaßnahmen. Professor Dr. Keller erläuterte entsprechend der Stellungnahme unter Mitwirkung der pädiatrischen Fachgesellschaften medizinische Hintergründe und sinnvolle Hygienemaßnahmen. Erkrankungen bei Kindern verlaufen zum Großteil mild oder symptomlos. Entgegen den ursprünglichen Vermutungen gäbe es bisher keinen Hinweis darauf, dass Kinder das Virus verstärkt auf andere Kinder oder Erwachsene übertragen. Kinder scheinen im Allgemeinen weniger empfänglich für das Virus zu sein. Gesunde Kinder aus gesunden Familien, ohne weitere bekannte Kontakte zu an Covid-19 Erkrankten, sind äußerst selten infiziert. Als erste Hygienemaßnahme ist es daher entscheidend zu wissen, ob das Kind Kontakt zu erkrankten Personen hatte und dann den Zugang zu Kita bzw. Schule zu untersagen.
Mehrfach betont wurde während der Diskussion, dass die Ansteckungs- und Infektionslage bei Kindern unter 10 Jahren einheitlich ist und daher aus medizinischer Sicht Grundschulen und Kitas gleich zu behandeln sind. Es sollten einheitliche Empfehlungen gelten.
So sollen nur symptomfreie Kinder die Kita oder Grundschule betreten und sich gleich nach dem Betreten der Einrichtung die Hände waschen. “Maßnahmen wie Fiebermessen oder Oberflächendesinfektion halte ich hier nicht für sinnvoll”, so Professor Dr. Keller. Die Gruppengröße an sich ist von untergeordneter Relevanz, solange die Gruppe konstant bleibt. Der Sinn voneinander getrennter Gruppen liegt darin, dass beim Auftreten eines Falles nicht die gesamte Einrichtung geschlossen werden muss. Insbesondere in Kitas und Grundschulen sollten den Kindern ganz normale zwischenmenschliche Beziehungen ermöglicht werden. Abstandsregeln sind in dieser Altersgruppe nicht umsetzbar und dem pädagogischen Konzept nicht angemessen. Masken sollten lediglich im Umgang des Fachpersonals miteinander und gegenüber den Eltern eingesetzt werden.
Alle Maßnahmen bei älteren Kindern und Jugendlichen sind mehr im Sinne einer Hygieneerziehung zu sehen als im eigentlichen Sinn eines “social distancing”, da die soziale Kontrolle nach Verlassen der Schule in dieser Altersgruppe nicht aufrechterhalten werden kann. Für Kitas wie Grundschulen gilt: Meist werden Kinder von Erwachsenen infiziert. Das sollte Eltern im Umgang miteinander stets bewusst sein.
Aus diesen Betrachtungen ergibt sich zwingend eine klare Botschaft an die Politik: Kultusministerien müssen in ihren Erlassen unbedingt eine altersspezifische Flexibilität für Schulen ermöglichen!
Pädagogik in Kitas und Grundschulen
Ein weiterer Themenpunkt des Kindergipfels war die Frage, wie die Rückkehr in die Kita und Grundschule nach der Schließung gut gelingen kann und mit welchen pädagogischen Herausforderungen sich das Fachpersonal konfrontiert sieht.
Entscheidend für eine gelungene Rückkehr und für eine tragfähige Beziehung zwischen Kitas und Familie auch während der Schließung, so waren sich alle Expert:innen einig, ist die hohe Qualität des pädagogischen Konzeptes und der Fachkräfte. Ebenso entscheidend ist eine positive Vorbereitung der Kinder durch die Eltern. Hier ist das pädagogische Personal ebenso gefragt wie die Träger, um Eltern anzuleiten. Frau Kempf betonte, dass für die Eingewöhnungsphase neue individuelle Konzepte gefunden werden sollten, die z.B. den Außenbereich mit einbeziehen. Die Ängste der Kinder, die teilweise auch aus den Familien stammen, werden in den Kitas und Grundschulen ein Thema sein. “Das pädagogische Fachpersonal muss die Ängste auffangen und Fragen klar beantworten, ohne jedoch zu dramatisieren”, so Professorin Dr. Schneider.
Herr Novellino führte an, dass perspektivisch in Kitas multiprofessionelle Teams mit verschiedenen Pädagog:innen notwendig sind, dass die Wertschätzung der Erzieher:innen dennoch nicht geringer werden darf.
Zusammenarbeit der verschiedenen Beteiligten
Unerlässlich für eine reibungslose Öffnung von Kitas und Schulen sind klare Vorgaben der Familien- und Bildungsministerien sowie der Kultusministerien, die im besten Fall in einem Dialog auf Augenhöhe aller Beteiligten entwickelt wurden und auf die Bedarfe der Kinder zugeschnitten sind. Dadurch wird vermieden, dass, wie es derzeit in verschiedenen Bundesländern der Fall ist, lokal auf Ebene der Kommunen oder der Träger über das Vorgehen entschieden wird. Durch das Fehlen klarer Vorgaben fehlt Erzieher:innen und Trägern ein klarer Rahmen, mit den entsprechenden Konsequenzen für Familien und Kinder.
Best-Practice-Bericht aus Dänemark
Eine wertvolle Ergänzung aus internationaler Perspektive lieferte der Bericht von Inga S. aus Dänemark, wo seit der frühen Öffnung von Kitas und Grundschulen Mitte April weiterhin fallende Infektionsraten zu verzeichnen waren. Dabei wurden in den ersten 4 Wochen lediglich einfache Hygieneregeln wie Händewaschen und getrennte Kleingruppen etabliert. Inzwischen ist man bei weiterhin getrennten Gruppen weitestgehend zur normalen Gruppengröße zurückgekehrt.
Aufklärungsarbeit – wie kann man Ängste nehmen?
Ein weiterer Schwerpunkt des Kindergipfels lag in der Frage, wie eine partnerschaftliche Aufklärungsarbeit funktionieren kann, um Kinder als vermeintliche “Virenschleudern” zu rehabilitieren. Dass ein Milieu der Angst keine gute Grundlage für Entscheidungen bietet, darin waren sich alle Teilnehmer:innen einig. “Wir müssen miteinander reden, nicht übereinander. Wir müssen in den Dialog kommen.” bekräftigte Professorin Dr. Schneider. Von herausragender Wichtigkeit, um Sicherheit zu schaffen, sei eine stabile und funktionierende Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und pädagogischem Fachpersonal. “Die Gesellschaft trägt derzeit noch die Hypothek vom Beginn der Krise. Inzwischen sind aber neue Zahlen und Fakten bekannt”, betonte Frau Riedel. Zu Beginn seien Kinder mangels anderer Erkenntnis als Treiber der Pandemie vermutet worden. Eine Versachlichung der Debatte sei dringend notwendig. Dazu werde auch das begleitende Monitoring der Kita- und Schulöffnungen beitragen. Professor Keller konstatierte in diesem Kontext: ”Wir sind alle aufgefordert, wieder eine gewisse Nüchternheit in die Debatte einzubringen. Wir brauchen achtsame Gelassenheit!”
Was bringt die Zukunft?
Einen positiven Ausblick auf die Zukunft lieferte der Kindergipfel gegen Ende. So ist Professor Dr. Keller der Überzeugung, dass es nicht notwendigerweise zu einer zweiten Infektionswelle kommen muss. Im Gegensatz zu März verfügen wir jetzt über Test- und Intensivkapazitäten und können schnell Maßnahmen einleiten, sobald ein lokales Aufflammen der Krankheit auftritt.
Von hoher Wichtigkeit wird es in Zukunft sein, die Positionierung der Gesellschaft bezüglich ihrer Werte in einem öffentlichen Diskurs transparent zu führen. Dabei muss dem Recht der Kinder auf Bildung eine hohe Priorität zukommen.
In ihren abschließenden Worten waren sich die Expert:innen einig: der Schlüssel zu einem Ausweg aus dem aktuellen familien- und bildungspolitischen Missstand liegt in einer offenen und sachlichen Diskussion aller Beteiligten. Die Interessen und verbrieften Rechte der Kinder, die derzeit nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stehen, müssen in den Fokus der gemeinsamen Anstrengungen rücken. Gerade die Achse Eltern-Fachkräfte könne noch mehr bewegen, so Frau Riedel. Wenn Eltern, Erzieher:innen, Mediziner:innen und Politiker:innen im steten Austausch bleiben und ihre Kräfte bündeln, kann die Krise auch eine Chance sein, um Gesellschaft und Bildung neu zu denken. Professor Dr. Keller fand dafür klare Worte:
“Wir dürfen die Zukunft nicht verspielen.”
Prof. Dr. Keller